top of page
  • AutorenbildLisa Aeschlimann

Wiedersehen nach 391 Tagen


Ein schweizerischtürkischer Doppelbürger aus Oberwinterthur wird monatelang in der Türkei festgehalten. Die Behörden werfen ihm Terrorismus vor. Gestern ist ihm endlich die Flucht gelungen.

Sie warten auf ihn mit Blumensträussen und Ballonen, auf denen Schweizer Kreuze und Willkommensgrüsse prangen. Stiefeltern, Grossmutter, Tante, Cousins und deren Kinder haben sich vor dem Ausgang der Ankunft 2 am Flughafen Zürich versammelt. Als er etwas verlegen um die Ecke kommt, nur mit einem leichten Rucksack und einer Tragtasche als Gepäck, schreit seine Frau vor Freude kurz auf, dann sind alle ganz still. Er kniet zu seinem Sohn und seiner Tochter hin, küsst sie nacheinander auf die Wangen.

Dann steht er auf und umarmt seine Frau. Er hält sie fest im Arm und schluchzt, die ganzen Strapazen der letzten Monate scheinen von ihm abzufallen. Die Verwandten und Bekannten filmen die Szene mit ihren Smartphones. Als ob sie es technisch festhalten müssen, um es wirklich glauben zu können.

391 Tage hat der 38-jährige Emre Dincer, ein schweizerischtürkischer Doppelbürger aus Oberwinterthur, seine Frau nicht mehr gesehen. Die türkischen Behörden hielten ihn fest und wollten ihn wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilen.

100 Tage Haft und drei Gerichtsverhandlungen

Dincers Geschichte beginnt am 17. Oktober 2017 am Flughafen in Istanbul. Er ist für die Herbstferien mit Frau und Kindern in die Türkei gereist, sie haben seine Eltern in der Küstenstadt Yalova besucht. Als sie zurückfliegen möchten, wird Emre Dincer von der Polizei festgenommen, seine Frau Serpil befragt.

Der Vorwurf: Emre Dincer sei Gülen-Anhänger und somit Mitglied einer terroristischen Organisation. Der Prediger Fethullah Gülen und seine Anhänger werden vom türkischen Staat für den Putsch im Jahr 2016 verantwortlich gemacht und seitdem regelrecht verfolgt.

Wie die türkischen Behörden zum Vorwurf gegen Emre Dincer kamen, ist nicht ganz klar. Laut mehreren Gülen-Anhängern kursieren seit dem Putsch vor zwei Jahren Listen von Gülennahen Organisationen und deren Mitgliedern. Die Mitglieder können unter anderem übers Handelsregister eingesehen werden.

Fakt ist, dass Emre Dincer vor ein paar Jahren im Vorstand des Gülen-nahen Bildungszentrums Ekol war. Er trat dann aber aus, als sich die Situation in der Türkei weiter verschlechterte.

Am Flughafen verhängen die türkischen Behörden eine Ausreisesperre über ihn und seine Frau, die beiden Kinder schicken die Eltern nach zwei Wochen zurück in die Schweiz, damit sie nicht zu viel von der Schule verpassen. Serpil Dincer stellt ein Gesuch für die Ausreise und darf eine Woche später ebenfalls zurückreisen. Emre Dincer müsste jetzt in seinen Heimatort Yalova beim örtlichen Polizeiposten vorbeigehen, um zu erfahren, was ihm genau vorgeworfen wird.

Er reist nach Yalova und wird an einem frühen Morgen, als er am Meer auf einer Bank sitzend eine Zigarette raucht, von zwei in Zivil gekleideten Polizisten angesprochen. Sie fordern ihn auf, seinen Ausweis zu zeigen. Weil Dincer nur seine Schweizer Identitätskarte dabeihat, nicht aber seinen türkischen Pass, muss er mit auf den Polizeiposten. Er wird festgenommen und verbringt sechs Tage in Untersuchungshaft. «Das war hart», sagt Dincer. «Am ersten Tag gaben sie mir kein Trinkwasser, rauchen oder duschen durfte ich die ganzen sechs Tage nicht.» Nach seiner Verhaftung publizieren mehrere Medien Dincers Namen und Foto, die grosse Tageszeitung «Sabah» zeigt seine Festnahme und nennt ihn einen Verräter.

Vom 10. November 2017 bis zum 20. Februar 2018, über 100 Tage, sitzt er im Gefängnis in der Provinz Mugla, nahe dem Touristenort Bodrum. «Wir waren 23 Personen auf 70 Quadratmeter verteilt, es hatte keinen Platz», sagt er. Alle Insassen seien politisch Gefangene gewesen.

Nach seiner Freilassung bleibt die Ausreisesperre erhalten, es kommt zu drei Gerichtsverhandlungen. Die Staatsanwaltschaft fordert eine Freiheitsstrafe von sechs bis acht Jahren.

Seit der Entlassung aus dem Gefängnis im Februar 2018 wohnt Dincer bei seinen Eltern in Yalova. Hier ist er aufgewachsen, hat einen Universitätsabschluss in polnischer Literatur gemacht. 2008 ist er in die Schweiz gekommen. Seine beiden Kinder kommen ihn in diesen Monaten bei den Eltern dreimal besuchen.

Am 2. Oktober 2018 wird er schlussendlich freigesprochen. Er erfährt nicht, ob die Ausreisesperre aufgehoben wurde oder nicht. Die türkischen Behörden geben ihm widersprüchliche Auskünfte. Die Staatsanwaltschaft will das Urteil weiterziehen. Einmal versucht er zusammen mit seiner Tochter und seinem Vater am Flughafen von Istanbul zurück in die Schweiz zu reisen, wird aber am Zoll aufgehalten. Die Tochter muss ihren Vater alleine zurücklassen.

Er gibt nicht auf und versucht es wieder. Gestern Freitag dann die grosse Erleichterung: Wie ein normaler Passagier kommt er durch die Zollkontrolle am türkischen Flughafen und darf den Flieger in die Schweiz besteigen. «Ich war überglücklich, als er mir geschrieben hat, dass er durch die Passkontrolle ist», sagt seine Frau Serpil Dincer. «Ich habe Luftsprünge gemacht und vor Freude geschrien!»

Ob der Rekurs der Staatsanwaltschaft erfolgreich war oder ob Emre Dincer hätte ausreisen dürfen, weiss die Familie bis jetzt nicht.

«Unglaublich dankbar gegenüber meinem Arbeitgeber»

Emre Dincer steht noch unter Schock: «Ich bin überwältigt und unendlich froh, wieder in einem Rechtsstaat zu sein», sagt er in perfektem Schweizerdeutsch. Er könne nicht verstehen, wie er als Terrorist habe bezeichnet werden können. Für das Bildungszentrum hätte er im Marketing gearbeitet und Flyer vom Deutschen ins Türkische übersetzt. «Bildung und Terrorismus, das passt einfach nicht.»

Dincer bezeichnet sich selbst nicht als Gülen-Anhänger. Der Cousin seiner Frau habe ihn zum Bildungszentrum gebracht, «es ging aber nie um Politik», sagt er.

Dincer hat in der Schweiz das eidgenössiche Diplom als Einkaufsfachmann erworben und arbeitet seit 2010 in dieser Position bei der ZKB in Dübendorf. Mitgebracht hat er Geschenke für seine Frau und für seinen Arbeitgeber. Die ZKB hat ihm während der ganzen Zeit seine Stelle freigehalten und den Lohn weitergezahlt. Die Bank meldete sich auch mit einem Schreiben beim zuständigen Richter, um für seine Freilassung zu kämpfen.

«Dafür bin ich extrem dankbar», sagt Dincer. «Es war eine riesige Erleichterung, zu wissen, dass es meiner Familie gut geht und sie in Sicherheit sind.» Wie dankbar er seinem Arbeitgeber ist, zeigt sein erster Stopp nach der Ankunft: Es ist sein Arbeitsplatz.

24 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page