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  • AutorenbildLisa Aeschlimann

90 Minuten in völliger Dunkelheit


In der Schweiz sind über 300’000 Personen sehbehindert. Wie ist es, für einmal nur schwarz zu sehen? Ein Selbstversuch im Dialoghaus in Hamburg.

Die Tür fällt ins Schloss. Schlagartig wird es dunkel, kein Lichtschimmer ist mehr zu sehen. Eine warme, weiche Hand drückt meinen Ellbogen, tastet sich sanft zu meinem Handgelenk. Wir stehen hintereinander. Meine rechte Hand liegt auf der Schulter des Vorangehenden, meine linke hält einen Blindenstock aus Holz. Wir sind zu neunt: eine Bremer Schulklasse, ihre Lehrerin, ein junges Paar aus Bayern und ich.

Die warme, weiche Hand gehört zu Jens, unserem Guide. „Bitte nicht Führer sagen, das klingt so scheiße“, sagt er und alle lachen. Seine Stimme ist jugendlich und kräftig.

Jens’ Stimme wird für die nächsten 90 Minuten das Einzige sein, woran wir uns orientieren können. Umgekehrt weiß er anhand unserer Stimmen, wer und wo wir sind. Beim „Dialog im Dunkeln“ führen Blinde und Sehbehinderte die Besucher durch dunkle Räume, vollgestellt mit Hindernissen. Sehende sollen Situationen meistern, die alltäglich sind für blinde Menschen.

Wir gehen im Gänseschritt. Der Boden wird weich, ein Geruch von frisch geschnittenem Gras steigt in meine Nase. Wind streift mein Gesicht, Vögel zwitschern, links plätschert ein Wasserfall, Wassertropfen treffen auf meinen Unterarm. Es riecht nach Tannen, Moos und Stall. Ich setze einen Fuß vor den anderen, die rechte Hand liegt auf der Schulter von Miss Kelly, der Lehrerin der Mädchenklasse.

„Hängebrücke! Schön festhalten, Leute!“, ruft Jens.

Als ich den linken Fuß aufsetze, wackelt der Untergrund, die Mädchen vor mir kreischen. Meine Hand breitet sich suchend aus: Wo ist das Geländer? „Boah, scheiße“, sagt die Bayerin hinter mir.

„Daisy? Hilary? Ladies?“, ruft Jens von vorne. „Immer schön zu mir.“

Die Vögel sind verstummt. Das Wasser plätschert nicht mehr. Stattdessen quietschen Reifen, heulen Motoren, ertönen Hupen. „Hört ihr die Ampel? Dieses leise klick, klick, klick?“ Jens gibt Daisy die Aufgabe, den Knopf zu finden, der die Ampel aktiviert. „Du musst nicht reiben, Liebes, das ist keine Wunderlampe“, neckt Jens. Die Mädchen kichern.

Der Ton der Ampel wechselt zu einem schnellen, hohen Piepen. Für uns heißt das: Es ist Grün. Ich streife mit dem Blindenstock über den asphaltartigen Untergrund. Links, rechts. Links, rechts. Bis ich weiß, dass der nächste Schritt sicher ist. „Alright, my dear?“, fragt Jens und greift meine Hand. Schritt für Schritt zieht er mich weiter, in Richtung kreischender Mädchen. „Hilary, immer der Wand entlang! Keine Angst, Schatzi.“

Jens mit den warmen, weichen Händen ist gelernter Kindergärtner. Nach seiner Lehre verschlechterte sich sein Sehvermögen aber zusehends. Heute sieht er noch fünf Prozent. „Ich kann noch die Nacht vom Tag unterscheiden, und ich erkenne, wann ein Bus auf mich zufährt.“ Jens führt seit über 16 Jahren Sehende im Dialoghaus durch die Welt, wie er sie wahrnimmt. „Das macht mir Spaß. Draußen war ich immer derjenige, der sich Dinge länger erarbeiten musste.“

Im nächsten Raum rattert ein Schiffsmotor, ein Horn ertönt. Das glatte Geländer, an dem ich mich nach vorne taste, ist feucht.

„Mädels, Achtung! Ich werd’ euch jetzt einzeln an Bord bringen. Frage: Haben wir hier wirklich Wasser?“ - „Neeein“, antworten die Mädchen ungläubig.

In der nächsten Sekunde platscht links unten etwas auf Wasser. Die Mädchen kreischen. „Oh, Gott!“

Jens nimmt meine Hand in seine und weist mir den Weg. Als ich den Fuß auf eine Rampe setze, das vermute ich zumindest, verschiebt sich diese leicht nach links.Ich setzte mich auf eine harte Holzbank, dem gleichmäßigen Auf- und Abwiegen des Untergrunds wähne ich mich in einem Boot. Eine Brise weht mir ins Gesicht, ich schmecke Salz. In der Ferne schreien Möwen.

„Meine Damen, mein Herr, willkommen! Wir sind unterwegs mit der Blinden Möwe 2. Die Hände bitte nicht raushalten während der Fahrt. Und wer kotzt, muss einmal umdrehen. Hilary und Konsorten, wenn ihr spuckt, immer mit dem Wind. Viel Spaß!“

Der Motor rattert schneller, das Wasser schäumt, die Gischt spritzt mir ins Gesicht.

„Wisst ihr eigentlich, wie die Kinder von Helene Fischer und Florian Silbereisen heißen?“, fragt Jens.

Stille.

„Silberfische!“

Die Mädchen prusten los. Hanan meint: „Die sind voll eklig.“ Jens lacht schallend.

Wieder auf festem Boden tasten wir uns der Wand entlang zum Ende des Rundgangs, der Dunkelbar. Jens witzelt: „Bitte, bitte, verwechselt die Regalbretter nicht mit dem Tresen, sonst redet ihr mit der Wand. Wie behindert wär’ das denn?“

Wir setzen uns. Meine Hand streift über das speckige Polster einer langen Bank. Plastik raschelt, es riecht nach Karamell, gebratenen Mandeln und Schokolade. Aha, jemand isst ein Snickers.

Wir sind am Ende des Rundgangs angelangt. Jens gratuliert uns zu unserem blinden Vertrauen. Er spricht jetzt leise, beinahe sanft: „Das war echt mutig von euch. Schwarz macht uns normalerweise Angst. Weil wir nicht wissen, was dort ist“, sagt er. „Ich hab’ versucht, euch das hier so einfach wie möglich zu machen. Mit irgendwelchen Sprüchen, bisschen Blödsinn und so. Weil, nach spätestens zehn Minuten solltet ihr das Gefühl haben, dass es immer besser wird.“

Unsere 90 Minuten ohne Licht sind für viele Menschen Alltag. In der Schweiz sind über mehr als 300’000 Menschen sehbehindert, 10’000 von ihnen ganz blind. Weil wir immer älter werden, steigt die Zahl seit Jahren an.

„Schon genial, das Projekt hier“, sagt Jens, während wir an unserer Cola nuckeln. „Für mich war das eine riesige Chance. Ich war immer wieder arbeitslos, habe ehrenamtlich was gemacht und so.“

Jens drückt einen kleinen Knopf auf einem Gerät, dass er mit sich trägt. Es ist eine sprechende Uhr. Eine kühle Frauenstimme erklingt: „Es ist 14.47 Uhr“ Die nächste Gruppe wartet bereits.

Diese Reportage entstand im Rahmen eines einmonatigen Kompakt-Kurses an der Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Die Aufgabe bestand darin, ein eigenes Thema zu recherchieren und umzusetzen, das den Leser in die Welt des Protagonisten mitnimmt (3 Tage, 6’000 Zeichen).

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