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  • AutorenbildLisa Aeschlimann

Auf Nachtschicht im Adlergarten


Viele Seniorinnen und Senioren fürchten sich vor dem Gang ins Altersheim. Schwierig ist aber nicht der Gang, sondern das Bleiben. Wie schafft es eine Pflegerin, dass sich die Menschen im Altersheim trotz allem zu Hause fühlen? Als Longform hier anschauen.

Die Pflegerin Donatella Di Dominicis geht mit der Mitarbeiterin der Spätschicht alle Patienten durch für ihren Rundgang.

Die Gänge sind leer, die meisten schlafen schon. Für die Pflegerin Donatella Di Dominicis beginnt der Tag, wenn es dunkel wird. Die ganze Nacht bis 7 Uhr morgens betreut sie die 23 Patientinnen und Patienten der Wohngruppe 6, Langzeitpflege.

Um 22 Uhr ist Übergabe. Im Büro hängen Fotos der Pflegerinnen beim Apéro und Geburtstagslisten der «Bewohnenden», wie die Patienten hier genannt werden. Die Pflegerin der Spätschicht geht mit Di Dominicis im kalten Licht Patient für Patient durch.

«Herr Schwarz* hat Blut im Stuhl.»

«Viel?»

Sie nickt. «Mhm.»

«Das müssen wir beobachten.» Bei Frau Ibach ist die rechte Leiste gerötet. Frau Michel hat nochmals abgenommen und ist jetzt bei 37,4 Kilogramm. Herr Hofmann hat heute wieder selbst gegessen, «das hat er wirklich super gemacht».

Herr Retz will ein letztes Mal fliegen.

«Geht das mit seinen Herzproblemen?»

«Die Ärztin hat ein Zeugnis ausgestellt. Er fliegt auf eigene Verantwortung.»

«Braucht er dafür Sauerstoff?»

Bei Frau Mielke war die Tochter zu Besuch. Herr Jäger hat eine neue Frisur. «Er sieht jetzt wieder top aus.» Herr Schwarz kann seit drei Tagen nicht auf die Toilette. Und er hat sich die Hand im Rollstuhl eingeklemmt.

«Links oder rechts?»

Di Dominicis hört zu, nickt viel, hakt nach. Für ihre erste Runde muss sie genau wissen, welche Patientin, welcher Patient wie gepflegt werden muss. Di Dominicis arbeitet im Adlergarten, dem grössten der fünf städtischen Alterszentren. Es wurde vor kurzem umfassend renoviert. Die 167 Plätze sind zu 98 Prozent ausgelastet.

Wie ist es, im Altersheim zu arbeiten, wenn alle Besucher weg sind? Die 26-jährige Donatella Di Dominicis mit weiten Stoffhosen und mintgrünem Poloshirt ist Fachmitarbeiterin in der Langzeitpflege; im Nachtdienst hat sie die Verantwortung über den fünften, sechsten und siebten Stock.

Um 22.30 Uhr beginnt die erste Runde. Di Dominicis läuft mit schnellen Schritten am Aufenthaltsraum vorbei, der im Dunkeln liegt und wo der Wandkalender bereits auf den nächsten Tag gestellt ist. In jedem Zimmer kontrolliert sie mindestens, ob die Patienten atmen oder etwas auffällig ist. Bei den meisten muss sie Katheterbeutel leeren, Einlagen wechseln oder beim Gang aufs WC behilflich sein. Einige müssen alle zwei Stunden von einer Seite auf die andere verlagert werden, damit keine Wunden entstehen.

Zuerst aber muss sie zu Frau Schulz, die momentan auf der Toilette sitzt. Wir – Fotograf, Journalistin und Kommunikationsbeauftragte der Stadt – müssen draussen warten. Die Tür ist angelehnt, nur Di Dominicis Stimme hört man.

«Frau Schulz, sind Sie schon fertig? Ging es mit Wasserlösen?» Gemurmel.

«Ich hole Ihnen grad noch das Wägeli.»

In diesem Moment läuft Frau Berger, pinkes, knielanges Nachthemd, mit Schuhen und Windeln, aber ohne Hosen ins Zimmer, das die Frauen teilen. Sie schaut uns ernst an, nickt kurz und geht dann wortlos ins Zimmer. Derweil hilft Di Dominicis Frau Schulz ins Bett. Sie legt ihr die Decke über den Körper, bettet sie, löscht das Licht und wünscht gute Nacht.

Kaum hat sie die Tür zugezogen, klickt der Deckel ihres Desinfektionsmittels, das sie in der rechten Hosentasche trägt.

Eine Flasche reicht ihr gerade einmal für zwei Schichten, desinfizieren muss sie ihre Hände nach jedem «Bewohnerwechsel». Wenn Di Dominicis von ihrer Arbeit spricht, benützt sie Wörter wie «die Bewohner mobilisieren», «die Einlagen sind ausgelastet» oder «die palliative Situation im siebten Stock». Das ist einfacher zu sagen, als dass jemand die Windeln voll hat oder im Sterben liegt. Auch die Vorgabe, mit allen Bewohnern per Sie zu bleiben, ist eine Form von Abgrenzung.

Di Dominicis ist gerne Pflegerin, ihr gefällt das Familiäre im Heim und der Kontakt mit den Patientinnen und Patienten. «Ich habe aber keinen Lieblingsbewohner, ich mag sie alle», sagt sie und lacht. Dass sie eines Tages in der Pflege arbeiten würde, war früh klar. Ihre Mutter arbeitet seit über 25 Jahren im Adlergarten, unten in der Übergangspflege. «Sie hat mich schon als Kind auf die Wohngruppe mitgenommen.» Über die Probleme im Pflegebereich – Mangel an Fachpersonal, schlechter Lohn, aggressive Bewohner und fordernde Angehörige – möchte sie aber lieber nicht sprechen. Es ist ihr wichtig, die schönen Seiten der Pflege zu betonen: das Helfen, die Dankbarkeit.

Di Dominicis’ Telefon klingelt – eine Bewohnerin hat gerufen. Sie kann es stumm schalten, aber es vibriert weiter, alle fünf Minuten erhält sie einen Reminder.

«Frau Ibach, Sie haben gerufen? Wie kann ich Ihnen helfen?»

Frau Ibach war auf der Toilette. Sie ist nicht zufrieden.

«Kam nichts?»

«Ich habe nur gefurzt», sagt sie.

«Das ist auch wichtig», antwortet Di Dominicis. Mit ihrer geduldigen, sanften Art ist sie ein Glücksfall für die Patienten. «Braucht Ihr noch etwas? Soll ich Euch den Kopf etwas tiefer stellen, das sieht noch nicht so bequem aus? So. Schlaft gut, Frau Ibach.»

Schon ruft Frau Mielke, auch sie muss auf die Toilette. Dann muss Herr Retz umgelagert und sein Katheterbeutel abgelassen werden. Herr Engelmann kann nicht Wasser lösen. Derweil ist Frau Mielke fertig auf der Toilette und muss ins Bett zurückgeführt werden.

Das Telefon klingelt. Herr Beck hat Schmerzen. Er liegt verkrampft im Bett, die nackten Beine an sich gezogen. Er schlägt mit der flachen Hand auf seinen Oberschenkel.

«Strecken?», fragt Di Dominicis. Er nickt.

«Haben Sie Schmerzen, Herr Beck?»

Ja, hat er. Sie muss später aus der Hausreserve Schmerzmittel für ihn holen.

Derweil ruft Herr Engelmann zum dritten Mal an. Er kann immer noch nicht Wasser lösen. Bei Herrn Schneider ist das Licht im Eingang aus. Di Dominicis knipst es an – weil er panische Angst vor Einbrechern hat, muss im Zimmer immer ein Licht brennen.

Verglichen mit anderen Nächten, ist es für Di Dominicis heute ruhig. Bei Vollmond oder einem Wetterwechsel sei das anders. «Heute habe ich genug Zeit, die Nachtrunde in Ruhe zu machen, ohne dass ich immer unterbrochen werde.» Nachdem sie bei Frau Schmidt, die noch fernsieht, reingeschaut hat, die Schmerzmittel für Herrn Beck geholt, zerstampft und in kleine Becherchen gefüllt und verabreicht hat, muss sie eine Etage tiefer. Eine Kollegin will wissen, ob sie einer Patientin, die Schmerzen hat, Morphium geben darf. «Gib mir fünf Tropfen Mo aus der Reserve», sagt Di Dominicis nach kurzer Diskussion. «Und wenn du denkst, sie verhält sich komisch, meldest du dich.»

Um 24 Uhr ist Zeit für den Hausrundgang, den sie immer zu zweit durchführen müssen – aus Eigenschutz, wie Di Dominicis sagt. Aggressionen in Heimen sind verbreitet: In einer Studie von 2012 gaben vier von fünf Pflegern an, während ihrer Arbeit aggressives Verhalten erlebt zu haben. Über die Hälfte von ihnen wurde schon körperlich angegriffen. Vorfälle im Adlergarten sind Di Dominicis aber nicht bekannt. Es könnte sein, dass jemand, derwieder nach Hause will, sich «etwas abgeneigt zeigen würde». Es sei aber niemand unter Zwang hier.

Während sie mit einer älteren Kollegin alle Türen und Fenster schliesst, kontrolliert, dass niemand auf den Besuchertoiletten ist, und den Strom im Festsaal abstellt, sagt diese: «Für die Pflege musst du schon eine dicke Haut haben.» Di Dominics sieht es so: «Man wird reif in diesem Job.» Sie habe früh lernen müssen, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen. «Passieren Fehler, hat das Konsequenzen.»

Nach dem Rundgang bleibt kurz Zeit für eine Rauchpause, danach muss sie die Reservemedikation für Herrn Beck eintragen und bei der «palliativen Situation» im siebten Stock vorbeischauen. Weil es im Adlergarten kein Sterbezimmer gibt, dient dafür der Multifunktionsraum, in dem sonst Besuch empfangen wird. «Wir sorgen dafür, dass die Sterbende keine Schmerzen hat.» Sie geben auf Wunsch Sauerstoff und informieren die Angehörigen. Die Bewohnerin liegt unter einer blauen Decke, ihr Kopf ist in Bandagen gewickelt, ein Schlauch versorgt sie mit Sauerstoff. Das Fenster ist gekippt, kalte Luft strömt herein. Wärmesteine geben dem Zimmer einen rötlichen Schimmer, wie das Licht bei Sonnenuntergang. An der Wand hinter der Tür hängen die Kleider, welche die Frau zu ihrer Beerdigung tragen will: ein braun-weiss gestreiftes Hemd, lange, schwarze Hosen.

Wenn es aufs Ende zugeht, könne man das sehen: «Das Gesicht ist dann eingefallen.» Und man höre es: Das Atmen fällt schwer, die Bewohnerin keucht, später beginnt die Schnappatmung, sie ringt um Luft. Wenn dann die Atempausen einsetzen, handle es sich nur noch um Stunden. «Wir machen dann nur noch das Nötigste und lassen der Person sonst ihre Ruhe.» Zum Abschied legen die Pflegenden ihr eine rote Rose auf den Bauch.

In ihren sechs Monaten beim Adlergarten musste Di Dominicis von fünf Patientinnen Abschied nehmen. Das sind schwierige Situationen für sie. «Jeder stirbt auf seine Weise. Aber wenn ich alles tun konnte und weiss, dass die Person in Frieden gegangen ist, erleichtert mich das.» Danach helfe ihr der Austausch im Team. Wie ging es? Was können wir das nächste Mal anders oder besser machen? Um sich abzulenken, ist sie in der Freizeit viel unterwegs, mal mit ihrem Seat Cupra oder auf dem Motorrad, einer Honda CBF 500. Oder sie verkauft in einem Verein Hamburger, Spiessli und Caipirinhas an Dorffesten. «So kann ich nicht nur im Beruf, sondern auch in der Freizeit helfen. Das ist schön.»

Um 1 Uhr morgens ist Zeit für Administratives.

Di Dominicis bleiben 30 Minuten, um Termine einzutragen, Mails zu schreiben oder Geburtstage zu planen. Die Patienten bekommen ein kleines Geschenk, eine Dove-Bodylotion oder ein Duschgel von Nivea, die Pflegerinnen singen für sie und backen Kuchen. Die meisten wünschen sich Zitrone.

In den 30 Minuten muss sie aber vor allem Pflegeaufträge erfassen. Für jeden Bewohner notiert sie den Aufwand minutengenau, damit es der Krankenkasse verrechnet werden kann. Das ist kompliziert und braucht Zeit. Zeit, die sie nicht hat, wenn sie alleine ist und sich noch um Lehrlinge kümmern muss. Überstunden macht sie auch bei den Gesprächen mit Angehörigen.

Um 2 Uhr macht sie zum zweiten Mal die Runde. So weit es geht, versucht sie, die Patientinnen schlafen zu lassen. Nur wenige sind noch wach, sie tauscht ein paar kurze Sätze mit ihnen, leert den Katheterbeutel, wünscht gute Nacht.

Um 4 Uhr schaut sie nochmals nach allen; zwischendurch notiert sie Pflegeaufträge, verschickt Mails, plant Termine. Um 5 Uhr wachen die ersten auf, dann wäscht sie sie, zieht sie an und verteilt zusammen mit dem Frühdienst die Medikamente. Um 7 Uhr schliesslich, wenn draussen wieder die Sonne scheint, übergibt sie ihre Arbeit an die nächste Pflegerin.

* Namen der Patienten geändert.

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