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Wenn Erstklässler kein Deutsch sprechen

Zu viele Schulanfänger können ungenügend Deutsch. Jetzt ergreifen verschiedene Schweizer Kantone Massnahmen zur Frühförderung.

von Nadja Pastega und Lisa Aeschlimann
Deutsch-­Unterricht im Kindergarten Stöckacker in Bern: Immer mehr Kinder sprechen
zu Hause keine der Schweizer Landessprachen. Foto: F. Scheidegger

Mit der achtjährigen Portugiesin kann sich die Primar­lehrerin nur über Bilder verständigen. Das Mädchen spricht kaum Deutsch. Die Lehrerin fotografiert alle Schulbücher, die Schulhefte, Arbeitsunterlagen. Die Fotos hängt sie an die Wandtafel. Auch die wichtigsten Begriffe wie «unterstreichen», «einkreisen» oder «schreiben» übersetzt sie in Bildsprache und zeigt bei einer Aufgabe auf die entsprechende Abbildung, damit das Mädchen versteht, was zu tun ist. Nützt auch das nichts, muss eine portugiesische Mitschülern übersetzen.

Schwierig sei auch ein Spanisch sprechendes Mädchen aus Südamerika, erzählt die Lehrerin, die im Kanton Zürich unterrichtet. Der deutsche Wortschatz der Schülerin sei beschränkt, sie verständigt sich fast nur mit Geräuschen. Fragt man sie: «Weisst du, was eine Tüte ist?», tönt das Kind «tüt, tüt, tüt». Und meint damit eine Flöte.

Kinder, die mit grossen Augen und kargem Wortschatz hilflos in der Schulbank sitzen, gibt es immer häufiger. Die Zahl der fremdsprachigen Schüler ist in der Schweiz auf ein Rekordhoch gestiegen. Schweizweit kommt inzwischen jeder dritte Volksschüler aus einem Elternhaus, in dem eine andere Sprache als in der Schule gesprochen wird. Vor zehn Jahren war es erst jeder vierte, im Jahr 2000 noch jeder fünfte. Umgerechnet heisst das: In den Schweizer Klassenzimmern sitzen derzeit über 300'000 Schüler, die zu ­Hause keine Schweizer Landessprache sprechen.

Den Spitzenwert unter den ­Kantonen hält Basel-Stadt. Dort sprechen 51 Prozent der Kindergärtler und Primarschüler zu ­Hause kein Deutsch. Im Kanton Zürich stellen die fremdsprachigen Schüler mittlerweile 43 Prozent – eine Zunahme von mehr als zehn Prozentpunkten in den ­letzten zehn Jahren. Im Kanton Aargau ist der ­Anteil auf 35 Prozent gestiegen.

Die Sprache als Schlüssel für eine gelungene Integration

Das hinterlässt Spuren in den Schulzimmern. Eine Lehrerin berichtet von einer Primarklasse in der Agglomeration, wo alle bis auf ein einziges Kind fremdsprachig sind. Ein anderer Lehrer hat schon Fünftklässler erlebt, die sich im Geschichtsunterricht über den Bau des Gotthardtunnels und Alfred Escher schlicht nicht äussern ­können – weil ihnen die Wörter fehlen. Und es gibt Kinder, die am ­ersten Schultag den Willkommensgruss der Lehrerin nicht verstehen, weil sie kein Deutsch können.

Dabei gilt Sprache als Schlüssel für eine gelungene Integration, der Schulerfolg als Eintrittsticket ins Berufsleben. Wer schlecht Deutsch spricht, hat oft auch in anderen ­Fächern Mühe. Wie soll man eine Mathe-Textaufgabe lösen, wenn man die Wörter kaum versteht?

Kinder, die mit deutlichen Rückständen bei der Sprachkompetenz eingeschult werden, können diese Lücken meist nie mehr schliessen, das zeigt die Bildungsforschung. Die Folgen werden in Schulstudien deutlich. Beim OECD-Schülertest Pisa schneiden fremdsprachige Jugendliche in der Schweiz deutlich schlechter ab als ihre Schulkollegen. Bei den drei letzten Pisa-Tests lagen sie mit ihren Leistungen am Ende der Schulzeit bis zu eineinhalb Schuljahre hinter den «einheimischen» Schulabgängern.

Spezielle Spielgruppen für die Deutschförderung

«Wenn die Kinder in die Schule kommen, müssen sie über einen genügenden Wortschatz verfügen», sagt Stefan Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung. «Wenn sie das nicht haben, werden sie gleich zu Beginn der ­Schulzeit abgehängt und holen das kaum mehr auf.»

Gegen den Notstand an den Schulen machen erste Kantone und Gemeinden mobil. Im Kanton ­Solothurn wurde in vier Gemeinden ein Pilotversuch mit «Deutschförderung vor dem Kindergarten» durchgeführt. 70 Vorschulkinder, die schlecht Deutsch können, besuchten im letzten Schuljahr eine spezielle Spielgruppe. «Es hat sich gezeigt, dass rund 30 Prozent ­aller Vorschulkinder einen Sprachförderbedarf haben», sagt Reto Steffen, Abteilungsleiter beim Amt für soziale Sicherheit des Kantons ­Solothurn.

In der Stadt Schaffhausen erhalten Vorschulkinder, die nicht hinreichend Deutsch können, ab diesem August einen subventionierten Förderplatz in einer speziellen Kita. Im Kanton Aargau hat die CVP im Kantonsrat ein Postulat eingereicht, das fordert: «Kinder, die nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen, sollen verpflichtet werden können, ein Jahr vor dem Kindergarten ein Angebot zur sprachlichen Frühförderung zu besuchen.» Derzeit prüft das Aargauer Bildungsdepartement verschiedene Umsetzungsvarianten und will bis Ende Jahr über die nächsten Schritte entscheiden.

Spezielle Sprachförderkurse für Drei- und Vierjährige soll es jetzt auch im Kanton Baselland geben. SP und CVP wollen für fremd­sprachige Kinder ein Spielgruppen-­Obligatorium. «In den nächsten Monaten», sagt eine Sprecherin der Bildungsdirektion, «werden Optionen zur Schaffung der entsprechenden rechtlichen Grund­lagen konkretisiert.»

Ein solches Obligatorium gibt es im Nachbar­kanton Basel-Stadt bereits seit 2013. An zwei Halbtagen pro Woche müssen Drei- und Vierjährige eine Spielgruppe mit spezieller Sprachförderung besuchen. Im ersten Jahr nach der Einführung absolvierten 289 Knirpse die Deutsch-Schulung, im jetzt ­beginnenden neuen Schuljahr sind es bereits 682 – das entspricht 41Prozent der Kinder, die vor der Einschulung stehen. Kosten des Pflichtprogramms: rund zwei ­Millionen Franken pro Schuljahr.

«Das Alter null bis vier ist politisches Niemandsland»

Das Obligatorium stosse bei vielen Eltern auf Verständnis, heisst es in Basel, auch wenn man im ­letzten Jahr zwei unkooperative Familien büssen musste. Bleibt die Frage: Darf der Staat so in die ­Familie eingreifen?


Die Antwort darauf trieb den damaligen Basler Bildungsdirektor Christoph Eymann um, als er das Spielgruppen-Obligatorium plante. «Ich kam zum Schluss: Ja, man darf – es geht schliesslich um das Kindeswohl», sagt Eymann. Die Sprachförderung habe man «ziemlich schnell aus dem Boden gestampft – im Bewusstsein, dass man das noch verbessern kann».

Nachbessern muss man laut ­Eymann auch auf nationaler ­Ebene. «Es braucht schweizweit eine obligatorische Sprachförderung für Kinder, die vor der Einschulung die Landessprache nicht hinreichend beherrschen», sagt ­Eymann. Das Problem ist: Die Kantone sind für die Schule zuständig, sie beginnt im Alter von vier Jahren. «Das Alter null bis vier ist dagegen politisches Niemandsland», sagt Eymann. Mit anderen Worten: Niemand ist zuständig.

«Die Schweiz hat bei der Frühförderung dringenden Nachholbedarf», sagt Beat Schwendimann von der Pädagogischen Arbeitsstelle des Schweizer Lehrerverbands LCH. Dass sie nicht bundesweit geregelt sei, führe zu krassen Unterschieden, wie Kinder gefördert würden.

Auch für Silvia Steiner, Zürcher Bildungsdirektorin und Präsidentin der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), ist klar, dass die frühen Jahre für den Spracherwerb «entscheidend» sind. «Die Frage ist aber, wie man die betroffenen Familien und Kinder am besten dabei unterstützen kann.» Während der Basler Bildungspolitiker Christoph Eymann mit einer obligatorischen Sprachförderung eine Lösung auf Bundesebene anstrebt, bevorzugt EDK-Chefin Steiner massgeschneiderte Lösungen: ­«Jeder Kanton soll je nach Grösse und Bevölkerungszusammensetzung selber entscheiden, welche Angebote am besten passen.»

 

Die Hälfte spricht kaum Deutsch – eine Lehrerin erzählt

«In meiner Klasse spricht mehr als die Hälfte der 23 Schüler zu Hause kaum Deutsch und wird neben dem Unterricht von einer Fachlehrperson für Fremdsprachige unterrichtet. Wenn ein Kind ­weder Deutsch sprechen noch ­verstehen kann, kommt es in der Stadt Zürich in eine sogenannte Aufnahmeklasse – einen Intensiv-Deutschkurs für Primar- und Sekschüler.

Schwierig ist es, wenn plötzlich eine Schülerin in meine Klasse kommt, die erst seit drei oder vier Wochen Deutsch lernt. Meine ­Kollegin erlebte das kürzlich, als ein spanischer Schüler in ihre erste Klasse kam. Weil er nichts verstand, war ihm langweilig und er begann, den Unterricht zu sabo­tieren: Er schlug andere Kinder, ­rastete immer wieder aus und war irgendwann nicht mehr tragbar. Wir haben mithilfe eines ­Hort-Mitarbeiters, der Spanisch konnte, und der Fachstelle für ­Förderung versucht, die Situation zu verbessern.

Auch in meiner Klasse habe ich einen Schüler, der regelmässig ­seine Fäuste einsetzt, wenn er sich nicht mehr mit Worten zu wehren weiss. Er geht auf andere Schüler los oder prügelt auf Türen ein.

Dass ein Grossteil der Klasse Sprachdefizite hat, ist für mich ­Alltag. Ich muss meinen Unterricht dementsprechend anpassen – das ist unfair gegenüber den ­Kindern, die perfekt Deutsch ­sprechen. Meistens achte ich darauf, dass sie den anderen die komplizierten Wörter erklären. Mich ­unterstützt jeweils eine Fachlehrperson, die alle Aufgaben mit den fremd­sprachigen Kindern im Voraus anschaut. Dafür müssen wir aber eng zusammenarbeiten, das ist aufwendig. Zudem wurden uns für dieses Schuljahr die Ressourcen gekürzt – ich kann die Kinder nur noch für drei statt vier Lektionen pro Woche zur Fachlehrerin schicken. Wie viel das dann noch bringt, ist fraglich.

Die Sprache ist in der Schule ­extrem wichtig, in allen Fächern. Wenn Schüler im Mathe-Unterricht die Aufgabenstellung nicht verstehen, sind sie bereits im Nachteil. Anders gesagt: Wenn du nicht gut Deutsch kannst, hast du verloren. Ich habe viele intelligente Kinder in der Klasse, die aber ­wegen ihrer Sprachdefizite schlechte Leistungen erbringen.

Diese Defizite können sie aufholen, sofern sie die Motivation ­mitbringen. Eine albanische Schülerin von mir, die am Montag die dritte Klasse beginnt, spricht zu Hause nur Albanisch. Aber sie liest sehr gerne und ist wissbegierig. In der Schule blüht sie regelrecht auf, ihr Deutsch ist dementsprechend gut und wird immer besser. Viele Kinder lernen schnell, so auch der Spanier. Seit er sich auf Deutsch ausdrücken kann, war er nie mehr auffällig in der Schule.»

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