Lisa Aeschlimann
Ein Nachmittag gegen die Einsamkeit
Der Freiwillige Xaver Achermann geht jeden Dienstag mit dem dementen Heinz Voitel spazieren. Wie ein regionaler Freiwilligenverein schwerkranken Menschen und ihren Betreuern einen Ausweg aus der Einsamkeit im Alter zeigt.

Besteigen zusammen die Aussichtstürme um Winterthur:
Heinz Voitel (links) mit seinem freiwilligen Betreuer Xaver Achermann.
Bild: Marc Dahinden
In der zweiten Strophe eines alten Schulliedes heisst es, von Töss bis zum Himmel sei es ein weiter Weg. Wie weit dieser sein kann, zeigt Heinz Voitel. Er hat die Strophen in der Primarschule in Töss wieder und wieder gehört, heute singt er das Lied bei jeder Gelegenheit. Aber er kann sich nur noch an die ersten zwei Zeilen erinnern:
«Mer seit, mer seygid nu vo Töss. Mer seygid fräch und seygid bös.»
Was dann meistens kommt, ist ein beliebiger Reim auf die Worte «Töss»oder «bös». Heinz Voitel, 85-jährig, ehemaliger Waffenläufer, SP-Gemeinderat und gelernter Elektriker, ist dement.
Post-Its als Erinnerungshilfe
Dienstagmittag, graues Mehrfamilienhaus im alten Dorfkern von Oberi. In der Vierzimmerwohnung im zweiten Stock wohnen Heinz und seine Frau Trudi Voitel seit 54 Jahren, sie sind Erstmieter.
In ihrem Wohnzimmer hängen sorgfältig angeordnete, in goldene Rahmen gefasste Blumenbilder, drei Puppen sitzen auf einer Holzbank, in der Ecke schlägt eine schwere Pendel-Uhr. Trudi Voitel räumt einen Haufen Zeitungsartikel über Demenz, die sie zuvor für die Journalistin auf dem Couchtisch ausgebreitet hatte, wieder in ihr Mäppli und ruft ihren Mann. In wenigen Minuten kommt Besuch.
Heinz Voitel, klein und mit erwartungsvollen Augen, schlürft ins Wohnzimmer und versinkt im braunen Ledersessel. Auf seinen Finken klebt ein gelbes Post-It mit der Aufschrift «Auf». Damit er weiss, wie er seine Finken an- und ausziehen muss, erklärt seine Frau. Die Zettelchen kleben in der ganzen Wohnung - auf dem Telefon (damit er sich von Werbern nichts aufschwatzen lässt), an der Schlafzimmertüre (wenn er nachts aufsteht und plötzlich fort will), über dem Papierhalter im WC.
«Heinz lebt in seiner eigenen Welt», sagt Trudi Voitel noch, bevor es an der Tür klingelt und ein älterer Mann mit dichtem, weissen Bart eintritt. Xaver Achermann, 75, ist freiwilliger Betreuer der Winterthurer Vereinigung Begleitung Kranker (VBK, siehe Infobox rechts). Seit eineinhalb Jahren holt er Heinz Voitel jeden Dienstagnachmittag ab und geht mit ihm spazieren. Sie waren schon auf dem Eschenberg, auf dem Golden- und Rosenberg, haben zusammen alle Aussichtstürme um Winterthur bestiegen. Sofern es das Wetter zulässt.
An diesem Tag aber ist das Wetter unberechenbar. Auf der zehn-minütigen Autofahrt zur Mörsburg scheint kurz die Sonne, dann verstärkt sich das Rieseln zum Hageln. Der Wind peitscht. Also weichen wir aus ins Gasthaus Schlosshalde.
Grüner Kachelofen in der Ecke, holzgetäfelte Wände. Heinz Voitel bestaunt die Aussicht über Stadel, Reutlingen und Oberwinterthur - «so schön».
«Ich will gebraucht werden»
Xaver Achermann ist seit sechs Jahren beim VBK, bis vor Kurzem war er dort der einzige Mann. Trudi Voitel suchte lange nach einem männlichen Betreuer: Sie wollte jemanden, der mit ihrem Heinz, dem ehemaligen Läufer, weite Strecken zurücklegen könnte. Da sei ein Mann geeigneter.
Warum tut man sich das freiwillig an, Menschen im ähnlichen Alter zu betreuen, die stetig abbauen? Wieso will man freiwillig den Spiegel für die eigene Vergänglichkeit vorgehalten bekommen?
«Ich will gebraucht werden», sagt Achermann. Er wolle eine Aufgabe im Leben nach der Pensionierung haben. Anders gesagt könnte es auch heissen: Er kämpft gegen das Vergessenwerden, mit einem der immer vergisst.
Achermann, ehemaliger Unternehmensberater, hatte sein Leben immer im Griff, ist an einem Punkt, an dem es für keinen mehr ein Patentrezept fürs Leben leben gibt: Krebs, die Prostata, das langsame aber unaufhaltbare Sterben sind immer wieder Thema unter seinen Kollegen.
Mit der Struktur, die ihm seine Treffen mit Heinz Voitel geben, will er ein Stück weit die Kontrolle über sein Leben zurückgewinnen. Kurz nach der Pension begann er beim alternativen Lokalradio Stadtfilter. Als freiwilliger Mitarbeiter nimmt er Sendungen fürs «Seniorama» auf, vertont sie und spricht die Off-Stimme. Beschäftigung gegen die Einsamkeit.
«Erinnerst du dich daran, Heinz, als wir zusammen auf dem Goldenberg Leute mit dem Mikrofon befragt haben?»
«Jaja», murmelt dieser.
«Weisst du noch, die Frau mit dem Hund?»
Pause. War das in Töss? Voitel beginnt zu singen:
«Mer seit, mer seygid nu vo Töss. Mer seygid fräch und seygid bös.
Mit Hotel- und mit hü, hü, hü - aber, gseht das schön uus, wend useluegsch», sagt er und zeigt aus dem Fenster.
Achermann weiss, wie schlimm es sein kann,im Alter krank zu sein. Seine Mutter war nach einem Schlaganfall nicht mehr ansprechbar und verbrachte die zwei Jahre bis zu ihrem Tod in einem Pflegeheim.
Da sei die Demenzabteilung im Adlergarten, die Heinz Voitel am Montag und Donnerstag besucht, nicht viel besser. «Haben Sie die gesehen? Das ist schrecklich.» Die Türen sind verschlossen, nur wer den Code weiss, hat Eintritt. «Und so viele Demente - die können sich gar nicht mehr austauschen untereinander und es kommt niemand, und gibt ihnen etwas zu tun.» Einsamkeit mangels Beschäftigung.
Er erzählt von einer früheren Begleitung, als er zu einem älteren Mann Schach spielen ging. Dieser sei nach einer Krankheit nur noch alleine zu Hause gesessen und habe den ganzen Tag fern geschaut.
«Nein, Heinz, du musst unter die Leute», sagt er zu seinem Freund, der gerade eine Hängelampe bestaunt.
«Dann bist du im Element.»
Voitel schaut kurz zu ihm, nickt: «Oder im Zement.»
Er lacht und schaut wieder aus dem Fenster.
«Man soll ihn einfach so nehmen, wie er ist»
Eine Woche später, zurück in Oberi, im Wohnzimmer mit den weichen Ledersesseln und goldenen Bilderrahmen. Trudi Voitel erzählt von früher: «Heinz war immer ein Fröhlicher, ein richtiger Dichter.» Zum Geburtstag habe er jeweils einen Reim für sie verfasst, sagt sie und zieht ein gelbes A4-Blatt aus ihrer Gummizugmappe. Sie waren viel unterwegs, besassen eine Ferienwohnung im Engadin. «Das vermisse ich.»
Seit ihr Mann vor fünf Jahren die Diagnose Demenz erhalten habe, seien alle Freunde auf Abstand gegangen. Um das zu verdeutlichen, schiebt sie immer wieder die Hände von sich weg. Im Haus, in dem sie den Grossteil ihres Lebens verbracht haben, will niemand mit ihrem Heinz zu tun haben.
Mit zwei Bekannten hat sie den Kontakt abgebrochen, weil sie immer weitere Ausreden vorbrachten, um nichts mit ihm unternehmen zu müssen. «Ich kann das nicht verstehen», sagt sie. «Man soll ihn doch einfach so nehmen, wie er ist.»
Weil sie weder vom Freundeskreis noch vom körperlich angeschlagenen Sohn Unterstützung erwarten kann, ist für sie die Arbeit von Xaver Achermann umso wichtiger.
Diese drei Stunden pro Woche geben Trudi Voitel die Verschnaufpause, die sie neben Spitalbesuchen, ihren Mann in die Tagesklinik im Adlergarten bringen und wieder abholen, Haushalten und Einkaufen, braucht. «Das ist der einzige Nachmittag, den ich für mich habe, an dem ich meine Freundinnen treffen kann.»
Eineinhalb Jahre habe sie gesucht, bis sie mit dem VBK eine passende Lösung gefunden hatte. Jetzt muss sie sich keine Sorgen machen, wenn ihr Mann ohne sie weg ist. «Ich weiss, er ist in guten Händen.»
Auch wenn Heinz nicht mehr sagen könne, welchen Hügel er mit Xaver Achermann am Nachmittag zuvor bestiegen habe, sehne er immer den nächsten Dienstag herbei.
Im Tössemer Lied von 1945 gibt es noch eine dritte Strophe, die letzte. Und auch wenn sich Heinz Voitel nicht mehr daran erinnern kann, würde er sie im Restaurant mit der schönen Aussicht wohl mitsummen:
«Jetz si mer z’Änd, de Schluss isch da, mer wänd jetz still ufd d’Site stah.
Mer wüssed, das mer zämestönd. Und eus i Gfahr nid fahre lönd.
T’Wält träet sich mit dir und mir, Mit Hotel- und mit Rössligschir.
Und wännt du meintsch, mer seygid bös, so tänk dänn dra: Mir sind vo Töss.»
Der Verein Begleitung Kranker hat 2017 knapp 2000 Stunden Freiwilligenarbeit geleistet
Laut einer Studie des Bundesamts für Statistik fühlt sich jede dritte Person im Alter häufig oder manchmal einsam. Die Pensionierung, der Verlust des Ehepartners oder eine Krankheit können zur gesellschaftlichen Isolation und möglicherweise sogar zu Depressionen führen. Angebote dagegen gibt es viele. Eines in der Region ist die Vereinigung Begleitung Kranker Winterthur-Andelfingen (VBK). Betreuende kommen dann, wenn die Spitex oder andere Dienste nach Hause gehen, und entlasten so die Angehörigen. Im Jahr 2017 betreute die VBK 34 Patienten, die 21 Betreuenden leisteten knapp 2000 Stunden Freiwilligenarbeit. Die Vereinigung wird von der Stadt Winterthur mit einem Beitrag unterstützt. (lia)