top of page
  • AutorenbildLisa Aeschlimann

10 Minuten für den Schuss


Seit zehn Jahren ist die heroingestützte Behandlung gesetzlich verankert. Schwerstsüchtige werden so seltener kriminell. Auf Besuch in der Heroinabgabe.

Dieser Artikel erschien u.a. auch im Tages Anzeiger, Der Bund und Berner Zeitung.

Daniel Müller (Name geändert), 43, braun gebrannt und stämmig, wartet an dritter Stelle vor der Tür. Um Punkt 12.30 Uhr öffnet sie sich. Wer zuerst hier ist, darf sich zuerst den Schuss setzen. An Müllers Hals baumelt eine dicke Silberkette. Die kurz geschorenen Haare sind grau meliert. Er trägt ein dunkles Baumwollhemd, bei dem er die obersten drei Knöpfe offen gelassen hat.

Es ist 12.30 Uhr, Müller tritt in ein Wartezimmer. Drei blassblaue Plastikstühle, ein Regal mit Tauschbüchern, acht gelbe Schliessfächer. Auf einer grell-grün gestrichenen Wand steht in weisser Schrift ein Zitat, das Franz Kafka zugewiesen wird: «Neue Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.»

Müller steuert auf eine graue Tür links vom Eingang zu. Dahinter befindet sich, was gemeinhin als Fixerstübli bekannt ist. Die Tür ist verschlossen. Es dürfen nur so viele hinein, wie Tische frei sind. Erst wenn das Lämpchen grün leuchtet, darf Müller eintreten.

Eine andere Patientin stellt sich ihm in den Weg.

«Jetzt bin ich dran», sagt er zu ihr und macht einen Schritt vor die Tür.

«Kannst du mich nicht schnell vorlassen? Mein Hund hatte keinen Auslauf, bitte, darf ich vor?», bettelt sie.

Er schaut weg.

«Eine Frage an dich. Der Hund war seit heute Morgen nicht draussen.»

Widerwillig gibt er seine Position frei.

«Danke», sagt sie und huscht an ihm vorbei. Kurz darauf leuchtet das Lämpchen und Müller öffnet die Tür.

Dreimal täglich, 365 Tage im Jahr

Müller ist einer von 58 Patienten im heroingestützten Programm namens Ikarus. Seit drei Jahren ist der Winterthurer ein Patient – dreimal täglich, 365 Tage im Jahr, holt er sich seinen Schuss. Er geht nicht in die Ferien. Er kommt, egal, ob es ihm von der Sommerhitze auf die Stirn brennt, ob ihn der Schneesturm zum Schlottern bringt. Er ist immer pünktlich.

Müller ist seit mehr als 20 Jahren heroinsüchtig. Alles begann in seiner Lehre zum Automech. An den Wochenenden feierte er an Technopartys in Zürich – «in dunklen, gefährlichen Clubs», wie er sagt. Er merkte, dass er mit dem Dealen von Ecstasy viel Geld verdienen konnte. «Das reizte mich.»

Das Heroin kam später, um «vom Ecstasy runterzukommen». Schnell wurde die Droge interessanter als die Partys. «Ich habe damals gedacht, eine Badewanne voll mit Heroin, das ist alles, was ich brauche. Und mit einem Wasserhahn, den du immer aufdrehen kannst.» Müller lernte Dealer kennen und dealte bald selbst mit Heroin. «Ich verdiente sehr, sehr viel Geld.» Er ging jeden Tag in teuren Restaurants essen, sein Handy klingelte ohne Unterbruch, die Frauen umgarnten ihn. Den Freunden sagte er, sie sollen so viel essen und trinken, wie sie möchten. Er bezahlte alles. «Es war eine geile Zeit.»

Fünf Jahre ging es für Müller so, dann flog er auf und musste vor Gericht. Sie gaben ihm 18 Monate auf Bewährung. Er entschied sich für einen Entzug und verbrachte zweieinhalb Jahre in einer Suchtklinik in Zürich. Draussen fing er wieder an zu konsumieren und zu dealen. Vor drei Jahren kam der Sinneswandel: «Ich wollte keine Delikte mehr begehen müssen, um meinen Lebensstil zu finanzieren.» Müller bewarb sich bei Ikarus, sie nahmen ihn an. «Ich muss jetzt jeden Morgen, Mittag, und Abend aufstehen, dafür muss ich nicht mehr dealen.»

Ein Knopf für den Notfall

Die Sonne scheint hell ins Zimmer. Hinter dem Milchglas schimmert das Grün einer Wiese. Fünf Metalltischchen stehen verteilt auf dem makellosen Linoleum­boden. Darauf Desinfektionsmittel und Kosmetiktuchboxen. Im Hintergrund läuft leise «Fast Car» von Jonas Blue: «You got a fast car, is it fast enough to fly away?»

Müller läuft zur Theke, hinter der zwei Mitarbeiter der Abgabestelle Spritzen aushändigen. Einen Meter vor der Theke ist auf dem Boden eine breite, rote Linie eingezeichnet. «Eigentlich müssten wir hier warten, aber das ist meistens ein wenig chaotischer», sagt er und grinst.

Wenn etwas passiert, sind die Mitarbeiter vorbereitet: Unter der Theke ist ein Knopf installiert, der direkt die Polizei alarmiert. Müller breitet alles auf dem Tischchen vor sich aus. Er hat zehn Minuten Zeit.

Blaue Papiertücher, Gazekompressen und ein kleines Pflaster liegen bereit. Eine Mitarbeiterin tupft eine Fingerspitze Bepan­then auf eine Gaze. Die beiden Angestellten kennen Müller, der Mann gibt ihm seine Dosis. Eine klare Flüssigkeit in einer fingerlangen Spritze. Darin Diaphin, pharmazeutisch hergestelltes Heroin. Dazu eine Stoppuhr – «manche schlafen dabei ein», erklärt Müller. Er hat zehn Minuten Zeit.

Müller breitet alles auf dem Tischchen vor sich aus und holt seinen Abbindschlauch aus seinem Fächli an der Wand.

Die kontrollierte Heroinabgabe hat seit 2008 eine gesetzliche Grundlage, als die Bevölkerung das revidierte Betäubungsmittelgesetz deutlich annahm. 2016 wurden laut dem Bundesamt für Gesundheit schweizweit 1600 Abhängige in 21 Abgabestellen behandelt. Ziel der kontrollierten Abgabe ist es, die Süchtigen zu stabilisieren, sie vom Rand in die Mitte der Gesellschaft zu holen, die Kriminalität zu reduzieren und ihre körperlichen Gebrechen zu lindern.

Weniger Kriminalität, weniger Tote

Die Behandlung mit Heroin erfolgt immer in Kombination mit einer ärztlichen und psychosozialen Betreuung. Die Kosten dafür übernehmen die Krankenkassen.

Das Schweizer Abgabeprogramm ist eine Erfolgsgeschichte: Seit der Einführung sterben viel weniger Süchtige an der Droge. Sie sind zudem gesünder, stecken sich seltener mit HIV an und sind weniger kriminell. Der Heroinkonsum geht generell zurück und es gibt wenig Neueinsteiger.

Müller holt sich einen Metallhocker. Er legt sein linkes Bein darauf und rollt die Jeans bis zum Knie hoch. Ein ausgelatschter Flipflop baumelt am Fuss. Sein Unterschenkel ist mit kleinen blauen Flecken übersät.

Eine Handbreit über der Ferse klebt ein frisches Pflaster. Müller reisst es weg, eine kleine Einstichstelle kommt zum Vorschein.«Wenn man die Venen nicht mehr sieht, wie bei mir, müsste man in die Muskeln spritzen. Das gibt aber keinen Flash.»

Eine Wärmelampe hilft, dann schwellen die Venen an. Müller hält die rote Lampe an seine Wade und bewegt sie leicht hin und her. Er fährt mit dem Finger sanft über die Stelle, die vorhin noch das Pflaster bedeckte – da, die Vene, er spürt sie.

Seine Hände sind ruhig, sein Atem geht gleichmässig. Er setzt die Nadel ans Einstichloch über der Ferse und hält sie flach zum Bein. Immer im gleichen Winkel, damit er die Vene trifft. Langsam fährt die Spitze der Nadel unter seine Haut, die klare Flüssigkeit mischt sich mit seinem Blut. Er gibt alles hinein, legt die leere Nadel auf den Tisch und hält sein linkes Bein in die Höhe. «Damit der Stoff schneller zum Hirn kommt, damits chrüselet», sagt er und lehnt sich zurück.

«Ich habe keine Freunde, ich bin alleine»

Es sei eine tolle Zeit gewesen, als das Telefon unablässig klingelte, er nicht aufs Geld schauen musste und alle Freunde einladen konnte, sagt Müller. «Dann wird man älter und jetzt ist mir bewusst: Ich habe alles verloren. Ich habe keine Freunde, ich bin alleine auf dieser Welt.» Das mit dem Haus am See, dem Hund, der Frau und den Kindern habe er aufgegeben. «Das ist nicht mehr mein Wunsch.»

Müller versucht nicht mehr, vom Heroin loszukommen. «Ich schaffe es nicht. Ich werde daran sterben.» Wahrscheinlich nicht hier, aber in zehn oder 15 Jahren – vielleicht gebe es irgendwo ein Altersheim für Junkies wie ihn. «Mein Wunsch ist, dass ich noch überlebe bis 65, dass ich bis dahin gesund bin. Und wenn es mich nimmt, dass es mich schnell nimmt.»

Müller lässt sein Bein noch eine Minute in der Höhe. Die Mitarbeiterin an der Theke tippt mit ihrem Finger auf eine imaginäre Uhr am Handgelenk. Die Zeit läuft. Er desinfiziert die Stelle mit einer Gaze. Drückt kurz darauf, klebt ein frisches Pflaster drüber.

Er steht auf, räumt alles zusammen, versorgt den Schlauch in seinem Fächli. Die Papiertücher und Gazen knüllt er zusammen und wirft sie in den Eimer hinter ihm. Die leere Spritze muss er vorne an der Theke zeigen und in ein rundes Loch schmeissen, sie wird speziell entsorgt. Er wischt den Tisch sauber, rückt den Stuhl zurecht und verschwindet. Raus, die Sonne geniessen.

42 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page