Die grosse Mehrheit der Menschen wird heute eingeäschert statt klassisch bestattet, Tendenz steigend. Was passiert nach unserem Tod? Ein Besuch im Krematorium Rosenberg.

Am Schluss ist von uns so viel übrig wie zu Beginn des Lebens. Drei Kilo. Weiss-gelblich die Knochen, porös wie Zwieback, in einer metallenen Schale. Darin liegt eine kreditkartengrosse Keramikplatte, auf der eine interne Nummer eingraviert ist. «28967 – Stadt Winterthur» steht da etwa. Sie sorgt daür, dass keine der Überreste verwechselt werden.
Alfred Baumgartner beugt sich über die Schale und hebt ein Stück Wirbelsäule hoch. «Der war krank», sagt er und schaut in die Runde. «Wisst ihr, was er hatte?» Kopfschütteln. Osteoporose, Knochenschwund, sei das, «weil die Wirbelsäule gelb verfärbt und innerlich fast hohl ist».
Zwei Stunden früher. Vor dem Verwaltungsgebäude des Friedhofs Rosenberg streunt eine Katze umher, sie ist schwarz. Eine Gruppe von Mitarbeiterinnen der Pflege Eulachtal steht um Baumgartner versammelt. Baumgartner, 52, schwarze Arbeitskleider, derbe Boots und Fleecejacke, leitet bei Stadtgrün seit dreieinhalb Jahren das Krematorium Rosenberg. Er zeigt den Pflegerinnen und Pflegern heute seinen Arbeitsort. Sie machen Weiterbildung. «Wir gehen denselben Weg wie ein Verstorbener», sagt er. Er bittet die Gruppe, ihre Smartphones wegzulegen. «Ich nicht – denn wir sind hier oben gnadenlos zu wenig Leute.» Sein Handy wird in den nächsten Stunden dreimal klingeln.
Bei Stadtgrün seien die Friedhofverwalter eher die Exoten, viel mit Gärtnern haben sie hier nicht mehr zu tun. Die ganze Kremationsanlage sei «hochtechnisch». «Aber früher lebten die Totengräber ja auch ausserhalb des Dorfes», sagt er und lacht.
Stirbt ein Angehöriger, ist die Friedhofverwaltung die erste Anlaufstelle. Hier finden die Todesfallgespräche statt, werden die Verstorbenen abgemeldet, Pfarrer, Sarg und Grab organisiert. «Die Mitarbeiterinnen hier kommen mit der ganzen Trauer in Kontakt, sie sind viel näher dran als wir.»
Die Chefin der Verwaltung steht rauchend auf der kleinen Terrasse des Hauses, sie wünscht viel Spass auf der Führung. Eine Pflegerin lacht.
Grell, kalt und sauber – wie im Spital
Baumgartner führt in die Aufbahrungshalle unter dem Hauptplatz. Der Raum erinnert an ein Spital, grelles Licht, kalt, sauber. Sichtbeton. Die ganze Organisation läuft über ein grosses, weisses Brett. Jeder «Gast», wie Baumgartner sie nennt, wird eingetragen mit Ankunft, Abfahrt und der Nummer des Kühlraums. Wofür das Kürzel «o. A.» stehe, fragt eine Pflegerin. «Ohne Aufbahrung. Der kriegt keinen Besuch mehr.»
20 Kühl- und 20 Aufbahrungsräume gibt es für die Verstorbenen. In zwei Tiefkühlern können sie drei Monate ohne zu verwesen gelagert werden. «Das ist nützlich, wenn Verwandte im Ausland leben und erst einen Flug buchen müssen», sagt Baumgartner. Im Lagerraum stehen Särge, grosse aus Fichtenholz, die die Stadt zur Verfügung stellt, und kleine, weisse, in Plastik eingepackt. Kindersärge. «Die brauchen wir lieber nicht», sagt Baumgartner, wendet sich ab und geht weiter.
Als Nächstes zeigt er den Aufbahrungsraum, eine mit Tresortüren verschlossene, von Backsteinen umgebene Kammer. Hier werden die Toten bis zu einer Woche bei acht Grad aufgebahrt. Dann dürfen Verwandte und Bekannte sie ein letztes Mal sehen. Was tut man bei Unfallopfern? «Wenn einer von einer Brücke gesprungen ist, werden die Knochen gerichtet, das geht meistens. Nur wenn einer ganz schlimm aussieht, bleibt der Sarg zu», sagt Baumgartner.
Hinter der Glasscheibe des Aufbahrungsraums sieht man den Besucherraum. Durch eine Tür um die Ecke betritt Baumgartner diesen. Wieder Sichtbeton, dazu Holz und warmes Licht. Es ist still. Tageslicht fällt von oben herab, in der Mitte führt eine Treppe hinunter.
Glasscheibe gegen Schmuckdiebe
Die Glasscheibe trennt Besucher vom Verstorbenen. «Damit brauchen wir weniger Energie zum Kühlen, und die Scheibe schützt die Verstorbenen vor Schmuckdieben.» Denn der Besucherraum ist 24 Stunden am Tag geöffnet und für alle zugänglich, egal ob verwandt oder nicht.
Nach der Aufbahrung werden die Verstorbenen durch einen unterirdischen Gang ins Krematorium gebracht. Die Anlage am Rosenberg gilt als die modernste der Schweiz, sie wurde 2003 gebaut. Nebenan steht ihr Vorgänger, noch mit Abdankungskapelle. Bis in die 30er-Jahre kremierte man hier mit Holz und Steinkohle, danach wechselte man auf Gas. Weil heisser und weniger Russ. 1980 ging das Krematorium in den Besitz der Stadt, von da weg plante sie einen Neubau. Heute kommt kein schwarzer Rauch mehr oben heraus. Die Luft flimmert am Kaminende höchstens leicht, wenn der Ofen einmal überhitzt.
Drinnen ist es hell, durch die raumhohen Fenster sieht man auf Bäume und Grabsteine. «Das Krematorium soll einen guten Eindruck vermitteln», sagt Baumgartner. Es ist warm. Das Feuer wartet hinter zwei meterhohen Metalltüren.
Durchschnittlich 11,7 Kremationen pro Tag führt Stadtgrün hier durch, drei Stunden dauert eine Verbrennung. Weil die Öfen mehrere Etagen haben, kann jede Stunde ein neuer Verstorbener verbrannt werden. Theoretisch wären 40 pro Tag machbar, sagt Baumgartner. «Wir hätten also noch Platz für mehr.»
Heute zieht bereits die grosse Mehrheit der Leute, 94 Prozent sind es laut Baumgartner, die Feuer-einer Erdbestattung vor. «Muslime aber wollen erdbestattet werden, da die Kremation für sie verboten ist. Momentan noch.» Auch für Katholiken war das bis 1963 der Fall, erst dann erlaubte der Vatikan die Einäscherung.
Ein Mitarbeiter lenkt einen Sarg auf einer Bahre vor eine der beiden Metalltüren. Baumgartner wendet sich an die Gruppe: «Falls dies jemandem zu nahe geht, können Sie draussen warten.» Eine Pflegerin geht hinaus. Sie hat Tränen in den Augen. Baumgartner wird ihr später ein Glas Wasser bringen.
Sekunden bis zum Feuer, drei Stunden bis zur Asche
Er umrundet den Sarg, kontrolliert alles. Das Keramikplättchen mit der internen Nummer klebt auf dem Fichtenholz, auf der Höhe des Brustkorbs. Ab jetzt geht alles automatisch: Baumgartner drückt auf einem Kontrollpanel den Knopf «Anforderung Beschickung», eine Metallbahre fährt aus, transportiert den Sarg in Richtung Ofen. Ein Schlund aus roter Glut, 720 Grad heiss, öffnet sich. Die Metalltür ist noch nicht wieder ganz geschlossen, da brennt der Sarg schon. Er entzündet sich selbst, so heiss sind die Steine im Ofen.
Durch drei Etagen geht der Verstorbene, über drehende Platten gelangt er jeweils eine Ebene tiefer. Eine Stunde dauert es, bis die Muskeln, Sehnen und das Fett weg sind und nur noch Knochen übrigbleiben. Bei Menschen, die kürzlich eine Chemotherapie hatten, dauert es doppelt so lang. Die Medikamente isolieren den Körper gegen die Hitze.
In der zweiten Etage werden das Kalzium und der Kalk in den Knochen in 45 Minuten «mürbe gekocht», wie Baumgartner sagt, sie brechen dann wie Zwieback. In der dritten Kammer schliesslich werden, soweit möglich, künstliche Hüft- oder Kniegelenke verbrannt. Herzschrittmacher waren früher ein grosses Problem für Krematorien, es kam immer wieder zu Explosionen. «Das ist heute nicht mehr so», sagt Baumgartner. «Grundsätzlich kann man alles mitgeben, Plüschtierli, Schmuck, egal.»
Was nicht verbrannt wird, landet im Sondermüll. Gold oder andere wertvolle Gegenstände können die Verwandten abholen. Die Friedhofsgebäude heizt man mit der Wärme des Krematoriums, fünf Prozent der Energie sind das. «Mehr ist aus Pietätsgründen schwierig», sagt Baumgartner.
6000 Franken für einen Ohrstecker
Kommen die drei Kilo Knochenmaterial aus dem Ofen, müssen sie noch zerkleinert werden. Durch eine sogenannte Aschemühle werden die Knochen «geschreddert», bis eine Mischung entsteht aus hellgrauem Pulver und etwas, das aussieht wie kleine Kieselsteine. Ein Esslöffel davon ist Kohle, der Rest sind Knochen und Sargpartikel.
Für Baumgartner ist die Kremation mit nichts Negativem behaftet. «Der Mensch geht ja nicht weg», sagt er. «Es ist, wie wenn wir aus Wasser Eis machen. Er ist jetzt einfach in einer anderen Form vorhanden.»
In seltenen Fällen wird die Asche auf Wunsch der Angehörigen weiterverarbeitet. Baumgartner zeigt einen bläulichen Ohrstecker. Er entstand aus zweieinhalb Deziliter Asche, wurde für 6000 Franken bei der Ems-Chemie hergestellt. Jeder Diamant habe seine eigene Farbe. «Je nachdem, welche Tabletten wir geschluckt, was wir im Leben gegessen oder welche Kleider wir bei der Kremation getragen haben.» Vier bis fünf Diamanten gebe Stadtgrün pro Jahr in Auftrag.
Baumgartner zeigt auf eine Kupferurne: «Der hier war mal einen Meter neunzig gross.» Jetzt passt er in eine Tasche.
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