Ein Polizist fährt zu seiner Mutter ins Altersheim und erschlägt sie mit ihrer Krücke. Er war weder vorbestraft noch auffällig. Warum tut er das? Ein Erklärungsversuch.

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Dieser Text entstand im Kurs "Kreatives Schreiben" am MAZ. Er ist fiktional.
Du hörst sie schon von weitem. Du kennst das Schreien der Sirene besser als die meisten. Vor deinem inneren Auge siehst du das Blaulicht des Polizeiwagens, der in die Einfahrt des Anwesens abbiegt.
Du lehnst mit dem Rücken am Bett im Zimmer 43 des Altersheims Dreilinde, bist zu Boden gesunken. Das Licht vom Korridor fällt ins sonst dunkle Zimmer. Vor dir steht ein Mann des Sicherheitsdienstes, du erkennst die Kampfstiefel, die schwarze Uniform. In seiner Hand hält er einen Schlagstock.
Neben dir liegt die Krücke. Mit ihr hast du deiner 86-jährigen Mutter so lange ins Gesicht geschlagen, bis sie aufgehört hat zu schreien. Von der Manschette der Krücke ist ein Teil weggebrochen, die Krücke liegt auf der blutverschmierten Strickdecke, die deine Mutter vor dem Zubettgehen über der Bettdecke gezogen hat.
Vom Gang hörst du Schritte, sie sind da. Du weisst genau, wie sie sich fühlen. Am Nachmittag hast du den Studenten noch gesagt, dass jeder Polizist vor einer Situation wie dieser Angst hat: Einen Tatort zu betreten, ohne zu wissen, was einen erwartet. In solchen Momenten würde das Herz schneller schlagen.
Deine Kollegen, mit denen du teils Jahrzehnte verbracht hast, gemeinsam an der Front gewesen bist, treten vors Licht. Sie erkennen dich trotzdem, sehen das Blut, das an deinen Händen klebt. In ihren Gesichtern siehst du Unverständnis, dann Angst und Ekel.
Du weisst auch, dass sie bei einem solchen Einsatz professionell bleiben müssen. Auch bei dir. Sie heben dich hoch, einer der drei legt dir Handschellen um. Das Metall liegt kalt auf deiner Haut. Sie führen dich ab, zwei greifen dir unter die Arme, der dritte läuft voraus. Im Vorbeigehen siehst du noch die Pflegerin in ihrem Kittel. Sie weicht vor dir zurück. Später wird sie dich nur noch als Krücken-Mörder von Luzern kennen.
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Dein Kollege schiebt dich in den Raum ohne Fenster, den du noch vor wenigen Stunden den Studenten gezeigt hast. Es war nicht mehr Teil der offiziellen Führung, aber weil du ein gewissenhafter Mensch bist, ganz im Dienst der Polizei, hast du sie auch dorthin geführt.
Die Betonwände, das Neonlicht – alles ist steril wie im Operationssaal. Dein Kollege notiert sich Name, Geburtsdatum, Zivilstand auf ein Klemmbrett, er misst dich, ein Meter 72, schätzt Gewicht, und führt dich zum Computer. Er löst die Handschellen.
Du kennst den Ablauf: Finger auf die Glasplatte, einer nach dem anderen scannen sie dir. Dann folgen die Fotos, frontal und im Profil. Das Licht brennt in deinen Augen. Dein Kollege liest dir deine Rechte vor. Dazu gehört das Recht auf Verteidigung und das Aussageverweigerungsrecht. 24 Stunden dürfen sie dich hier festhalten, die Einvernahme hast du selbst hunderte Male beaufsichtigt.
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Du sitzt in der Justizvollzugsanstalt Grosshof in Kriens. Einem zweckmässigen, postmodernen Betonbau, bei dem Sicherheit, Übersichtlichkeit und Ästhetik ineinander aufgehen.
Im Pausenhof ist alles aus Beton: Boden, Wände, Sitzbank, Tischtennis-Tisch. In der Stunde, in der du deine Zelle verlassen darfst, brennt dir die Sonne auf die Stirn.
«Luxusknast» nennen ihn die Medien, weil er mehr gekostet hat als budgetiert und die Bauerarbeiten länger dauerten als gesagt. Früher hättest du diesen Journalisten geantwortet, ein Gefängnis auszubauen sei eben eine Herausforderung, das könne dauern.
Du bist in U-Haft. Man unterstellt dir Flucht- und Wiederholungsgefahr. Du darfst deine Frau und deine beiden Töchter nur durch eine Glasscheibe hindurch sehen. Während dich ein Wächter mit hinter dem Rücken verschränkten Armen beobachtet. Du darfst nicht telefonieren. 23 Stunden sitzt du in deiner Zelle, isst, liest, schläfst in deiner Zelle.
Du denkst dir aus, wie der zuständige Staatsanwalt in seinem Büro in der Luzerner Innenstadt deinen Fall durchgeht, die Berichte deiner Kollegen liest, Aussagen der Krankenschwester aufnimmt, dein Leben bis zur Kindheit zurückverfolgt. Und wartest.
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Dann kommt die Staatsanwaltschaft. Ein Mann in einem Anzug, wie du ihn auch getragen hast, als du noch Kommunikationschef warst. Er hat sich eine schwarze Ledermappe unter den Arm geklemmt. Wie surreal das alles ist, denkst du. Du weisst später nicht mehr, ob du dabei die Tat oder deine Stelle bei der Polizei meinst.
Zwei Sicherheitskräfte halten dich an den Armen fest, die Hände sind in Handschellen. Die Metallkanten schneiden dir ins Handgelenk, drücken aufs Gelenk. Du beginnst die Handschellen, die du sonst Fahrraddieben, Randalieren oder Rasern umgelegt hast, zu hassen. Du folgst dem Staatsanwalt in ein Sitzungszimmer. Wieder ein Raum ohne Fenster, stattdessen orangener Linoleumboden, dunkle Holzstühle um einen dunklen Holztisch.
An dessen Ende sitzt ein weiterer Mann im Anzug, jünger, der Anzug günstiger. Er wird jedes Wort, das du sagst, in seinen Laptop tippen. Sich notieren, zu welcher Zeit du zur Toilette gehst, wann du eine Zigarette rauchst, wie viele Male du den Staatsanwalt unterbrichst. Du wirst jede Seite seines Protokolls lesen und unterschreiben müssen.
Schon wieder musst du bestätigen: Name, Alter, Wohnort. Ja, G.. Ja, Kommunikationschef bei der Polizei Luzern.
Herr G., wissen Sie, was Ihnen vorgeworfen wird?
Du weisst es ganz genau. Mord. Nachzulesen im Strafgesetzbuch, Artikel 112. Den Artikel kennst du auswendig, weil er sich bei den Fällen, wie es sie in Luzern nur alle 20 Jahre gibt, in dein Gedächtnis eingebrannt hat: «Handelt der Täter besonders skrupellos, sind namentlich sein Beweggrund, der Zweck der Tat oder die Art der Ausführung besonders verwerflich, so ist die Strafe lebenslängliche Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren.»
Was ist in der Nacht des 29. Junis passiert, Herr G.?
Ich habe meine Mutter getötet, sagst du.
Hatten Sie jemals vor, einem Menschen Gewalt zuzufügen?
Nein, hattest du nicht. Deine schlimmste Tat war eine Verkehrsübertretung, das hast du den Studenten am Nachmittag nicht ohne Stolz in deiner
Stimme erzählt.
In deiner Freizeit gehst du bergsteigen oder kümmerst dich um den Garten. So hast du es der Luzerner Zeitung erzählt. Du bist bescheiden, sprichst nicht viel über Privates, hörst lieber anderen zu. Alles, was dir in deinem Job als Kommunikationschef geholfen hat.
Und du bist loyal. 38 Jahre warst du im selben Betrieb, dein Herz immer bei der Luzerner Polizei. Du hast dich hochgearbeitet, wie es sich für den Schweizer gehört: Warst zuerst bei der Sicherheitspolizei, dann Kriminaltechniker und später Chef des Kriminaltechnischen Dienstes, dann stellvertretender Chef Kriminalpolizei und seit 2012 zuständig für die Kommunikation.
Ende Jahr wärst du in Pension gegangen, hättest die Freiheit mit deiner Frau genossen, wärst auf Reisen gegangen – Italien, Spanien, Frankreich, vielleicht noch weiter. Hättest das Meer gesehen. Wärst zurückgekehrt und hättest dir einen Schrebergarten im Grabenhof bei Kriens gekauft. Deine Enkel wären jeden Dienstag und Donnerstag zu dir gekommen.
Haben Sie die Tat geplant?
Nein, hattest du nicht.
Hatten Sie Vergeltungsgefühle gegenüber Ihrer Mutter?
Nein.
Wollten Sie Ihre Mutter dafür bestrafen, dass Sie sie pflegen mussten?
Nein, wolltest du nicht.
Was haben Sie sich von der Tat erhofft?
Du weisst es nicht. «Nichts, denke ich», sagst du dem Staatsanwalt.
Der Staatsanwalt schaut nicht von seiner Akte auf, als er die nächste Frage stellt.
Warum haben Sie ihre Mutter umgebracht, Herr G.?
Und du fragst dich selbst: Warum eigentlich?
Es war ein Tag wie jeder andere in der Kasimir-Pfyffer-Strasse 26. Du hast E-Mails beantwortet, Anrufe von Journalisten zum Verkehrsunfall auf der A2 entgegengenommen, du bist mit deinen Mitarbeitern in der Kränzlin-Pizzeria essen gegangen.
Hast am Nachmittag eine Studentenklasse durchs Polizeimuseum geführt und dabei über die neue Einsatzleitzentrale, Sachbeweise und Kriminaltouristen gesprochen. Sie haben viele Fragen gestellt, du bist nicht um 17 Uhr, sondern erst um 17.30 Uhr von der Arbeit weggegangen.
Du bist auf dem Weg nach Hause, zur Houelbachstrasse 34, in den Stau geraten. Für die Strecke, die sonst 15 Minuten dauerte, brauchtest du fast 45 Minuten. Deine Frau hatte das Abendessen bereits abgeräumt, darum bist du direkt zu deiner Mutter gefahren. Donnerstag ist dein Abend, deine Bruder kommt am Dienstag, Sonntag geht ihr zusammen. So habt ihr es vereinbart.
Deine Mutter liegt im Bett, als du das Zimmer betrittst. Sie erkennt dich, ihren Sohn, lächelt müde. «Du bist spät», sagt sie. Du streichst ihr über das dünne, weisse Haar, nimmst ihr die Brille von der Nase, klappst die Bügel zusammen und legst sie auf den Nachttisch.
Dein Blick geht vorbei am Fenster mit Blick auf den Vierwaldstättersee, am Bücherregal mit Plüschtieren, hin zur Krücke, die angelehnt an den Holzschrank in Griffweite steht. Diese verdammte Krücke, denkst du. Wieso musst du zusehen, wie deine Mutter Tag für Tag weiter verfällt? Nicht mehr selbstständig wohnen kann, nicht mehr selber gehen kann? «Schlaf, Mutter, schlaf», sagst du noch und sie schliesst die Augen.
Du schaust zum Staatsanwalt, eure Augen treffen sich. Du überlegst und antwortest dann. Vielleicht wäre auch alles anders gekommen.
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