Dieses Jahr kandidieren deutlich mehr Frauen. Die Leherin Sibylle Moopanar erzählt, was gegen unhöfliche Konkurrenten und Blackouts hilft.
Es war kalt auf dem Marktplatz in Bischofszell, der Stehtisch zu hoch. Ein Politiker an diesem öffentlichen Talk wandte Sibylle Moopanar den Rücken zu, drängte sie weg. Und der Moderator, der den Thurgauern die Nationalratskandidaten vorstellte, stellte plötzlich andere Fragen als vorgesehen. «Was denken die anderen von mir? Sind meine Antworten gut genug? Wie wirke ich?», fragte sich Sibylle Moopanar im Stillen. Sie war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie, bis sie an der Reihe war, die Frage vergessen hatte.
Die 32-jährige Lehrerin aus dem Kanton Thurgau will im Oktober für die FDP in den Nationalrat. Es ist ihr erster Wahlkampf.
Wie kann man in einer solchen Situation kompetent reagieren, professionell bleiben? Das ist Thema eines Coaching, das die überparteiliche Kampagne «Helvetia ruft» Neulingen wie Sibylle Moopanar anbietet. Per Videokonferenz bespricht Moopanar mit Coach Kathrin Rüegg Fragen zu Positionierung, Medienarbeit – oder Auftrittskompetenz. Vier Gratis-Sessions hat die Kandidatin zugute.
«Helvetia ruft» will mehr Frauen in die Politik bringen. Denn sie sind in der Politik noch immer untervertreten: Im Nationalrat besetzen sie ein Drittel der Sitze, im Ständerat nur ein Achtel. «Unsere Demokratie leidet, wenn Frauen so stark untervertreten sind», sagt Kampagnenleiterin Jessica Zuber.
Fernsehbeitrag als Auslöser
Vor einem Jahr haben die Frauenorganisation Alliance F und Operation Libero die Kampagne ins Leben gerufen. Just einen Abend nachdem in Aarau Cédric Wermuth von der SP-Delegiertenversammlung vor Yvonne Féri für den Ständeratssitz von Pascale Bruderer nominiert wurde. Der Frauenanteil im Ständerat drohte so auf ein Rekordtief zu fallen. Vor einem vollen Saal im Kulturzentrum Progr in Bern sprach die erste Bundesrätin, FDP-Frau Elisabeth Kopp. Sie sagte die Worte, welche die ganze Bewegung seither tragen: «Man kann nicht ein bisschen gleichberechtigt sein. Entweder man ist es, oder man ist es nicht.»
Moopanar sieht kurz darauf den Fernsehbeitrag zur Kampagne und entscheidet sich: Ich packs, ich kandidiere. «Die Idee, politisch aktiv zu werden, hatte ich schon länger. Ich brauchte aber eine Möglichkeit, eine Tür, die aufgeht», sagt sie. «Ich finde, es ist Zeit, dass sich mehr Frauen in der Politik engagieren.»
Das Ziel waren 500; es wurden fast 600
Tags darauf meldet sie sich bei «Helvetia ruft», dort vermitteln sie ihr den Kontakt zur lokalen FDP-Sektion.Moopanar führt Gespräche mit der Parteileitung, Ende März wird sie an der Parteiversammlung einstimmig auf die Liste gesetzt. Kurz zuvor war sie an einem «Vernetzungsapéro» von «Helvetia ruft», besuchte dort Workshops zu Themen wie Fundraising oder Positionierung und merkte: Ganz viele andere Frauen sind in derselben Situation.
Das Ziel der Initiantinnen, 500 Frauen zu einer Kandidatur zu motivieren, wird übertroffen: Es werden 565. Fast 600 Frauen aus 21 Kantonen, elf Parteien und allen Sprachregionen hatten zuvor ihr Interesse an einer Kandidatur angekündigt. Ein Drittel hatte sich vorher noch nie politisch engagiert.
«Dann werde ich immer kleiner»
Zurück zum Coaching via Internet: Kandidatin Moopanar will wissen, wie sie eine peinliche Situation wie in Bischofszell künftig vermeiden kann. Statt konkrete Tipps zu geben, fragt die Beraterin Rüegg nach. «Warum ist dir das peinlich? Was meinst du mit unvorbereitet? Was wäre das Schlimmste, was passieren könnte?» Und analysiert: «Du hast neben der Vorbereitung auf die Frage eigentlich noch eine ganze Konversation mit dir selbst geführt.» Sibylle Moopanar nickt und sagt: «Dann werde ich immer kleiner.»
«Ich will nach Bern»: Lehrerin Sibylle Moopanar kandidiert auf dem vierten Listenplatz der FDP-Frauen. Foto: Urs Jaudas
Rüegg erinnert sie an eine Übung aus einem früheren Coaching. Sie soll sich vorstellen: Es ist zwei Jahre später, sie wurde gewählt, hat vieles erreicht und erzählt jetzt auf einer Bühne Politikneulingen von ihrem Erfolg. «Erinnere dich ans Gefühl: Du bist standfest, locker, stolz.» Was sagt die standfeste, lockere, stolze Sibylle in einem solchen Moment zu ihren Zweifeln? Dass sie weggehen sollen. «Eigentlich kann ich das ja», sagt Moopanar und lacht jetzt.
Fulfillment-Methode nenne sich das, sagt Coachin Rüegg. «Wenn man diese sogenannten Saboteure erkennt, kann man eine andere Perspektive einnehmen und sich wieder aufs Wesentliche konzentrieren.» Rüegg ist ausgebildete Coachin, über ihre Schwester hat sie von der Kampagne erfahren. «Für mich war klar, ich wollte meinen Beitrag dazu leisten», sagt sie.
Lauter und fordernder
Knapp zwei Wochen bis zu den Wahlen – und es zeichnet sich ab: 2019 könnte zum Frauenjahr werden. Deutlich mehr Frauen kandidieren als noch vor vier Jahren. Für den Ständerat zeichnet sich ein Allzeithoch von weiblichen Kandidaturen ab. Und die Wahlchancen der Frauen sind gut: Sie belegen bessere Listenplätze als 2015. Bei kantonalen Wahlen im Frühjahr, bekannterweise Stimmungsmesser für die nationalen Wahlen, konnten die Frauen zudem ihren Anteil in mehreren Kantonen steigern.
«Unser Ruf wurde gehört», sagt «Helvetia ruft»-Kampagnenleiterin Zuber. Kathrin Bertschy, Co-Präsidentin von Alliance F und GLP-Nationalrätin, meint: «Jede von uns kennt Frauen, die früher zögerlich waren und jetzt fanden, ich trete an.» Frauen seien lauter und fordernder geworden: Sie beanspruchten öfter gute Listenplätze und forderten im Ständeratswahlkampf neu auch Männerduos heraus. «Das war höchste Zeit.»
Sibylle Moopanar ist nun mitten in der heissen Phase ihres Wahlkampfs. Sie hat eine Website aufgesetzt, auf Instagram sieht man sie beim Unterschriftensammeln für die kantonale Biodiversitätsinitiative, beim Weggli-Verteilen am Bahnhof Amriswil oder an ihrer ersten öffentlichen Rede zum Nationalfeiertag. Ein FDP-Kantonsrat, der ihr als Mentor zur Seite steht, nimmt sie mit an wichtige Anlässe und stellt Kontakte her. Das Coaching mit Kathrin Rüegg helfe ihr, selbstsicherer aufzutreten und eigene Hemmungen zu überwinden. «Und es ist wertvoll, wenn man weiss, dass man eine Ansprechperson hat.»
«Irgendwo muss man anfangen»
Die Initiantinnen von «Helvetia ruft» sind sich einig: Die Kampagne hat etwas bewirkt. Für den Ständerat, in dem momentan sechs Frauen sitzen, sind laut Bertschy am 20. Oktober bis zu fünf zusätzliche Sitze möglich. Der Frauenanteil wäre dann wieder auf dem Niveau von 2003. Nicht nur im Ständerat sind aber viele der Bisherigen männlich – es ist schwierig, diese herauszufordern. Am Ziel sind sie noch lange nicht. «Wenn wir im gleichen Tempo weitermachen, dauert es noch zwanzig Jahre, bis wir Parität haben», sagt Bertschy.
Für die Initiantinnen ist deshalb klar, dass ihre Arbeit noch nicht getan ist. Nächstes Jahr finden in den Kantonen wieder Wahlen statt. «Auch dort gibt es bezüglich Vertretung der Frauen grossen Aufholbedarf», sagt Kathrin Bertschy.
Moopanar kandidiert auf dem vierten Listenplatz bei den FDP-Frauen. Ihre Chancen, gewählt zu werden, sind klein. Sie will sich so oder so weiter politisch engagieren – ob als Nächstes auf Gemeinde- oder Kantonsebene, ist noch offen. «Ich will nach Bern», sagt sie. «Vielleicht klappt es dieses Jahr nicht, vielleicht in ein paar Jahren noch nicht. Irgendwo muss man anfangen.» Das Rüstzeug dafür hat sie nun.
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